Erst mit 52 Jahren für die Rente in Aktien investieren? Anja aus Lutherstadt Eisleben hat das gewagt. Mitten in einer Lebenskrise hat sie eine mutige Entscheidung getroffen.
Welcher Weg führt aus einer Sackgasse? Labyrinthe stehen symbolisch für richtungsändernde Lebenswege. In Sachsen-Anhalt steht eins im Klostergarten Helfta. Anja Becker-Geipel (55) hat in ihrem Leben mehrmals die Richtung ändern müssen.
„Hier bin ich viel gewesen, wenn es mir schlecht ging. Dann haben sich mein eigenes Leid, die Probleme oder die Fragestellung einfach relativiert“, sagt Anja auf einer Sitzbank vor dem Labyrinth, ihr Blick schweift in die Ferne.
Trügerische Sicherheit
Alles steht im Jahr 2019 auf dem Kopf: Erst verstirbt Anjas Mutter, einige Zeit darauf ihr Schwager. Als sich auch noch ihr Ehemann von ihr trennt, ist nichts mehr wie vorher. „Das waren Erlebnisse, die mir komplett den Boden unter den Füßen weggerissen haben”, erinnert sie sich. Im selben Jahr zieht sie aus dem gemeinsamen Haus aus. Anja wirkt still und nachdenklich, wenn sie über die Krisen nachdenkt. Rückwirkend würde sie sich als depressiv einschätzen.
Vorher ist es dem Paar gut gegangen. Anja hat sich lange in der Ehe in Sicherheit gewähnt. Ein guter Lebensstandard sei ihnen wichtig gewesen. Aber es habe keine Rücklagen gegeben. „Wenn wir Geld hatten, haben wir es ausgegeben. Wenn wir keins hatten, haben wir uns am Riemen gerissen. Wir haben beide das Leben genossen.“ Anjas Konto sei früher immer im Minus gewesen. Irgendwann hat sie es hingenommen. „Das hat auch was mit Verdrängung zu tun. Die Frage ist nur: Wie nah lässt du das an dich heran?“
Doch zu verdrängen ist nach der Trennung keine Option mehr. Plötzlich muss sie ihre Rentenpunkte klären und aufstellen, was ihr alles gehört. Das Thema Altersarmut habe zwar immer wieder in Anjas Hinterkopf geschwirrt. Doch durch die nahende Scheidung wird es präsent: „Ich musste für mich definieren, was Sicherheit ist und wie ich sie wiederkriegen kann, wenn die äußeren Umstände das gerade nicht hergeben.“ Da sie lange selbstständig gewesen sei, habe sie nicht durchgehend in die Rente eingezahlt.
So wie Anja ergeht es vielen Frauen in Deutschland. Trennungen sind für Frauen ein Armutsrisiko, warnt auch Bundesfamilienministerin Lisa Paus. Frauen verdienen wegen Teilzeitarbeit und längerer Familienauszeiten in der Regel weniger als Männer. Die Erhebung des Bundesamts für Statistik von 2021 zeigt, dass Renten um ein Drittel niedriger als die der Männer ausfallen.
Der Weg zu finanzieller Unabhängigkeit will gelernt sein
Auf diese Rentenaussichten hat Anja keine Lust. Im Internet stößt Anja 2020 auf ein „Mentoring-Programm” der Firma „Madame Moneypenny“. Dabei handelt es sich um einen Online-Finanzkurs der Unternehmerin Natascha Wegelin. Von einer Frau nur für Frauen. In dem Mentoring-Programm sollen Teilnehmerinnen ihren Weg in die finanzielle Unabhängigkeit finden. Auf dem Lehrplan stehen Verhältnis zu Geld, Haushaltsbücher, Rentenlücke, Rücklagen- und Vermögensaufbau. Anja meldet sich an.
Nur nicht ganz günstig: Für acht Kurswochen hat sie 2.000 Euro bezahlt. Inzwischen haben sich die Teilnahmegebühren sogar erhöht. Allerdings ist auf der “Madame Moneypenny”-Webseite keine genaue Summe zu finden. In einem Onlineforum berichten Teilnehmerinnen von 5.000 Euro Teilnahmekosten. Die Summe passe sich an das Einkommen an. Anders als noch bei Anja müssen heutige Interessierte schon schuldenfrei sein. Die Verbraucherzentrale in Hamburg kritisiert, dass die Kosten nicht transparent sind.
Welche Aktienpakete die Frauen buchen sollen, vermittelt das Mentoring-Programm nicht. Vielmehr soll es darum gehen, sich genug Wissen anzueignen, um vernünftige (Finanz-)Entscheidungen zu treffen.
Wieso meldet sich aber jemand wie Anja mit Disposchulden bei einem so teuren Kurs an? Zumindest sei sie danach schuldenfrei gewesen. Ein Sparkonto sowie mehrere Depots habe sie sich eingerichtet. Sogar einen Notgroschen konnte sie sich ansparen. Sie wirkt selbstbewusst, wenn sie davon erzählt.
Aber es gab noch etwas, worauf Anja stolz ist. In ihrer Werkstatt am Theater Eisleben kann sie sie selbst sein, frei sein. Ihr „Wohlfühlort“. Masken und Kostüme bis zur Decke, an der Tür kleben liebe Zettelnachrichten von ihren Kolleginnen. Nach langer Selbstständigkeit ist sie jetzt festangestellte Gewandmeisterin und leitet ein kleines Team. Bühnenkostüme setzen sie mit handwerklichem Geschick um.
Begeistert zeigt sie ein Hühnerkostüm: „Egal, wie schlecht es dir geht, du kannst immer noch so tolle Sachen machen!“ Das Kostüm hat sie während ihrer Trennungsphase angefertigt. Während Anja das Kostüm auf die Puppe zieht, lacht sie.
„Am Ball bleiben, um die Erfolge zu behalten.“
Heute, drei Jahre nach dem Mentoring, kommt es zwischendurch mal noch vor, dass Anjas Konto im Dispo sei, nur nicht mehr so tief wie früher. Sie zeigt sich jedoch gelassen: „Mit finanzieller Unabhängigkeit ist das so wie mit dem Sporttraining. Man muss am Ball bleiben, um die Erfolge zu behalten.“
Auch wenn Anjas Weg in die finanzielle Freiheit durch die Entscheidung ihres Ex-Mannes ausgelöst worden ist, hat Anja selbst aus der Sackgasse herausgefunden. Sie hat gelernt, Zustände nicht mehr hinzunehmen. Denn Zustände ließen sich auch verändern. Diese Erkenntnis macht sie stolz – und waren ihr die 2.000 Euro alle Mal wert.
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