2021 erlebt der damals 88-jährige Erhard Bader einen Unfall am russischen Baikalsee – sein geplanter Lauf ist Wladiwostok plötzlich in Gefahr. Vier Tage Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn liegen vor Erhard und seiner Lebensgefährtin Claudia. Ob Erhard es bis zur Startlinie schafft?
Stolz ist er nicht, sagt Erhard Bader. Aber sehr zufrieden. Der heute 90-Jährige sitzt auf dem Sofa in seiner Köpenicker Wohnung, um ihn herum Bilder von Läufen aus aller Welt, Erinnerungstücke und unzählige Pokale. Claudia begleitet Erhard seit 13 Jahren auf all seinen Reisen. Im Berliner Leichtathletikverband ist sie als seine Betreuerin gelistet, um ihn bei seinen Läufen zu unterstützen. Die Läufe sind der Grund für die Reisen. So sehen sie gemeinsam die Welt.
Vom Friedrichshain zum Rennsteig
Mit dem Laufen begonnen hat er aus einer Laune heraus bei dem ersten Neujahrslauf im Friedrichshain 1972.
Heinz Florian Oertel hat in der DDR-Sportsendung „He, he, he Sport an der Spree“ dazu aufgerufen und Erhard, damals 40, entscheidet sich kurzerhand dazu, mitzulaufen.
Danach ist erstmal wieder Schluss gewesen. Obwohl er es sich vorgenommen hat, ist Erhard in diesem Jahr nicht mehr gelaufen.
Aber zum Neujahrslauf 1973 ist er wieder dabei. Von da an ist Erhard nicht mehr zum Halten gekommen. Im ersten Jahr drei Kilometer, im zweiten fünf, im dritten sieben, im vierten zehn. „Ein paar Jahre bin ich dann zehn Kilometer gelaufen und war ganz gut drauf. So sechs, sieben Minuten für einen Kilometer, das war normal. Ja, und dann kam die Wende – aber sportlich gesehen.“
1977 entdeckt seine Tochter in der „jungen Welt“ einen Artikel über den Rennsteiglauf in Thüringen, Erhards Heimat.
„Und dann habe ich überlegt, zehn Stunden müsstest du eigentlich schaffen. Siebeneinhalb Kilometer pro Stunde. Das sind 75 Kilometer. Müsste klappen. Und dann bin ich mit meiner Tochter ins Stadion gegangen, habe sie mit einer Stoppuhr an den Rand gesetzt. Um mir das Gefühl anzutrainieren, wie langsam ich das angehen muss.“
Die ersten 75 Kilometer
Am 21. Mai 1977 regnet es. Schon Tage vorher hatte es ununterbrochen geregnet erinnert sich Erhard. Er trägt eine Strickleggings ein Baumwollshirt, einen Rollkragenpullover und einen Daunenanorak. Laufschuhe gibt es zu dieser Zeit noch keine. Wer über den Rennsteig will, hat nicht nur die 75 Kilometer Strecke, sondern auch 900 Höhenmeter vor sich.
Die Wege sind aufgeweicht und matschig. Teilweise sind sie von Panzern zerfahren, die auf der Strecke ihre Übungen gemacht haben. Die Wege eignen sich nicht überall zum Laufen: Matschlöcher bis oben hin mit Wasser gefüllt. Fast einen halben Meter hoch. Nach neun
Stunden und 55 Minuten erreicht Erhard völlig erschöpft und durchnässt das Ziel. Sein Plan ist aufgegangen: In den folgenden Jahren wird er immer wieder kommen.
Viele Wenden in seinem Leben
Nach seinem Studium in Rostock arbeitet Erhard zunächst als Dozent für Maschinenbau an der Universität in Rostock. Später zieht er nach Ost-Berlin und arbeitet für die staatliche Planungskommission. Im Jahr 1990, zur Zeit der Wende, geht er in Rente.
„Und dann sagte der damalige Sozialminister Norbert Blüm, ich solle in Rente gehen. Da habe ich gedacht, jeden Tag früher in Rente ist ein gewonnener Tag. Jedes Jahr früher ist ein gewonnenes Jahr.“
Erhard nutzt die neu gewonnene Freiheit und läuft von da an um die Welt. Ein Marathon in Neuseeland, einer auf Hawaii und in einer New York. Heute läuft er nur noch „kurze“ Strecken von bis zu 21 Kilometern, wie er selbst sagt.
2021 reisen Erhard und Claudia nach Russland. Das Ziel ist der Lauf in Wladiwostok. Eine Stadt im östlichsten Zipfel des Landes. Auf dem Weg besuchen die beiden unter anderem den Baikalsee. Auf dem Weg zu einer Statue rutscht Erhard aus und schlägt mit dem Kopf auf einem Stein auf. Die Platzwunde zieht sich von der Stirn bis zu seiner Nase. Die Wunde wird genäht, für einen Verbandswechsel am nächsten Tag bleibt aber keine Zeit. Die Reise geht weiter. Vier Tage mit der Transsibirischen Eisenbahn. Während der Fahrt versorgt Claudia die Wunde. In Wladiwostok angekommen, führt die beiden der erste Weg ins Krankenhaus zur Kontrolle. Erhard bekommt das Okay für den Lauf und absolviert die fünf Kilometer als ältester Teilnehmer der gesamten Veranstaltung. „Läufer sind leidensfähig. Ich habe mehrere 100 Kilometer Läufe gemacht. Ab und zu mal hat man mal ein Tief. Das kommt schon vor. Da muss man durch.“
„Stolz bin ich nicht“
Heute, nach 50 Jahren im Laufsport, kann Erhard auf unzählige Wettkämpfe zurückblicken.
Auf dem Sofa in seinem Zimmer zwischen Sportgeräten und unzähligen Fotoalben mit Wettkampfberichten resümiert er: „Stolz bin ich nicht. Ich kann Vorbild sein für Jüngere, nicht aufzugeben. Auch im Alter noch zu laufen, aber stolz? Nein. Ich bin zufrieden. Innerlich sehr zufrieden, dass ich das gemacht habe, dass ich das noch machen kann.“
Und er sagt, nicht jeder müsse einen Marathon laufen. Ein Marathon sei ein sehr hartes Ziel, was nicht jeder erreichen müsse. Darüber hinaus sei ein Marathon nicht unbedingt gesund. Das Training dorthin schon, aber der Lauf an sich sei eine Überlastung des Körpers. Regelmäßig fünf oder zehn Kilometer zu laufen, in der Freizeit und als Ausgleich, tue etwas sehr Gutes für seinen Körper, sagt Erhard.
Der Mythos Marathon bleibt natürlich bestehen – möglicherweise Erhards Antrieb? Heute sind es nicht mehr die 42 Kilometer. Aber die Bewegung und das Adrenalin bei einem Wettkampf bleiben, auch wenn Erhard in seiner Altersklasse schon lange keine Konkurrenz mehr hat. „Ich wollte mir nie was beweisen.“ sagt Erhard. „Einen Trainingsplan hatte ich keinen.“ Vielleicht ist genau das sein Geheimnis.
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